Saturday, November 3, 2007

Erwin Chargaff: Ernste Fragen

Ich habe von ihm bereits ein paar Essays, z.B. in der Sammlung Die Aussicht vom 13. Stock gelesen, was ganz furchtbar war. Weitere Essay, die vor allem von den Naturwissenschaften handelten, haben mir dann doch ganz gut gefallen. Zum Beispiel mag ich seine Skepsis gegenüber seinem eigenen Geschäft (die Naturwissenschaft) und dass er ganz offensichtlich ein radikaler Grüner, ein Ökologe zu sein scheint. Das ganze Essay über die Bioethik war hervorragend. Mir ist auch aufgefallen, dass er hier ganz anders als in der Aussicht vom 13. Stock, viel kundiger und fundierter argumentiert hat. Man merkt gleich, woher er kommt und dass er sich lieber darauf konzentrieren sollte, anstatt seine unausgegorenen Meinungen über alles auszuschütten, dass einem alten koketten Mann, der vor allem sich selbst zitiert, in den Weg kommt. Das Kapitel über den Slogan fand ich dann wieder ganz schlecht. Seine Lektoren hätten ihm auch sagen müssen, dass es längst schon Dildos gibt und dass deswegen Microsoft sicher keinen "ergonomischen Penis" (147) mehr entwickeln wird. Am deutlichsten wird sein Unwissen dann am Begriff "Information Highway" oder "Datenautobahn". Seine gesamte Argumentation ist ein Missverständnis aus Ignoranz. Er dämonisiert hier etwas, dass nur ein Medium ist und daher nur so gut, wie seine Benutzer. Dabei wird auch deutlich, dass er den "Slogan" vom Information Highway missversteht, wenn er ständig seine Auffassung von Wissen hinein bringt und zu kritisieren versucht, dass alles was unter diesem Slogan subsumiert wird, nichts mit Wissen zutun hat. Diese Kritik ist total unangebracht, weil apriori feststeht, dass es nichts mit Wissen zu tun hat und weil der Begriff "Information Highway" oder "Datenautobahn" auch nie den Begriff des Wissens inkorporieren wollte. Er meint nämlich einfach nur die physische Verbindung zwischen zwei oder mehr Computern, also die Leitungen aus Kupfer oder Glasfaser. Gerade die deutsche Übertragung "Datenautobahn" hätte ihn stutzig machen müssen, denn Daten sind eben kein Wissen und nie hat jemand zu behaupten versucht, dass Daten = Wissen sei (deswegen heißt es eben nicht "Informationsautobahn", sondern "Datenautobahn"). Das Missverständniss, dem Chargaff aufsitzt, kommt aus der Ambiguität des englischen Wortes "information". Es meint in diesem Falle nämlich gerade nicht "Auskunft" (was eben die andere Bedeutung des Wortes im Englischen sein kann) wie im Deutschen, sondern es meint hier schlicht Daten. Leider kämpft er das gesamte Essay durch mit den Schatten (den Wörtern), statt sich den wirklichen Problemen, nämlich der praktizierten Nutzung eben dieser Technologien zuzuwenden. Das ist ihm eben nur im Aufsatz über die Bioethik gelungen, wo er ganz hervorragend gegen die Patentierung und Vergewaltigung der Natur argumentiert.

In Ernste Fragen gießt Chargaff dann wieder seinen eitlen Pessimismus über alles aus. Das mag einem alten Mann zustehen (er war 81 als er das Buch 1986 schrieb), wird aber eben nicht dem gerecht, was er zweifellos erreichen will: etwas allgemeingültiges zu sagen. Für die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit hat er keinen Sinn. In allen seinen Büchern wird deutlich, dass er skeptisch gegenüber allem und jedem ist, nur nicht gegenüber sich selbst. Nicht einmal habe ich bei ihm einen Zweifel an seiner Weltsicht gespürt, ein Zögern oder Abwägen. Und das geht mir auf die Nerven, wenn jemand die Wahrheit gepachtet hat. Ebenfalls nervig ist, wenn jemand seine Essays folgendermaßen beginnt: "Vor vielen Jahren habe ich einmal geschrieben..." Ernste Fragen ist ein "ABC of Sceptical Questions" und bis jetzt bin ich nur bis D wie Demokratie gekommen. Der Eintrag über Demokratie ist gar nicht so schlecht, aber der über Dekadenz hat mich wieder aufgeregt. Apodiktisch urteilt Chargaff, dass immer alles schlechter würde. Die Bürger der Städte (New York, Paris, London) hätten Angst, die Straße oder die Nahverkehrszüge zu benutzen. Es ist ja nicht zu bestreiten, dass es Leute gibt, die Angst haben, aber ich bin doch der Ansicht, dass man heute weniger Angst haben muss, als besipielsweise damals (vor 1914 - die große Zeitenwende für Chargaff) im Wilden Westen oder gar im europäischen Mittelalter. Haarsträubend sind auch seine Ansichten über die Literatur, die ganz dekadent und ungegenständlich immer schlechter geworden wäre und nur noch akademischen Spezialisten zugänglich sei. Was für ein Blödsinn! Ich wette empirisch betrachtet gab es noch nie so viel - in allen Bedeutungen - leicht zugängliche Literatur wie heute. Und selbst wenn man sich nur auf sogenannte hohe Literatur berufen möchte, könnte ich schnell beweisen, dass es mit Musil, Mann, Frisch, Johnson, Grass, Grünbein (um nur ein paar deutschsprachige zu nennen) eher mehr zugängliche Literatur gibt als vor 1914. Und was ist mit der ganzen amerikanischen Moderne? Die hat es für Chargaff nicht gegeben. Und genau das ist immer wieder Chargaffs Muster: Das, wofür er sich nicht interessiert, gibt es nicht. Es wird einfach ausgeblendet, nicht erwähnt und beim Leser dabei auf ein einverständliches Kopfnicken gehofft.
  1. Du bist kein Kork, der auf dem Wasser hin und her geworfen wird, du bist nicht der Spielball böser Mächte.
  2. Wenn du das Produkt einer Evolution bist, hat der, der die Evolution geschaffen hat, dich geschaffen.
  3. Du bist du selbst - sei besser mehr du selbst als weniger; und wenn du alt wirst, wirst du nicht dein eigenes Spiegelbild anspucken wollen.
  4. Man kann nicht früh genug damit beginnen, eine Kapsel aus Stille, Schweigen, Einsamkeit um sich her aufzubauen. Nur in diesem schalldichten Raum kann man die Stimme der Natur vernehmen, kann man die Gedanken des eigenen Herzen denken.
  5. Was immer mit der Stimme der Welt zu dir spricht, ist böse; keiner, der dich zu etwas überreden will, meint es gut.
  6. Wenn du feststellst, dass es nur eine Sache gibt, die du tun kannst, zwing dich dazu, zwei zu tun.
  7. Sei nichts hundertprozentig; bring Leben und Geschäft nicht durcheinander; verdiene dein Brot tagsüber und sei dann frei.
Das sind Chargaffs sieben Lebensweisheiten aus dem Essay Jung und Alt (s. 109). Er leitet sie auf seine gewohnt selbstverliebt-kokette völlig enervierende Weise ein: Hie und da konnte ich - aus dem nicht sehr üppigen Schatz meiner eigenen Erfahrung - ein paar Sätze sagen. Es waren nicht viele, und sie waren nicht sehr profund. Nein, es sind genau sieben, und natürlich hält er selbst sie für sehr profund, sonst hätte er sie hoffentlich nicht geschrieben. 2. und 5. sind allerdings als aussagenlogische Milchmädchenrechnung einerseits und grobe Verallgemeinerung andererseits wirklich nicht sehr profund. 6. ist nett kryptisch und sicher tief gemeint. 1. und 4. sind super, absolut entgegen unserem Zeitgeist, aber immer noch die besten Wegweiser zum Glück. Auch 7. ist ein wertvoller Ratschlag, den ich versuchen werde zu beherzigen. Menschen die irgend etwas hundertprozentig sein wollen, gehen mir sowieso auf den Nerv. Sie tendieren dazu, apodiktisch in ihren Meinungen zu sein und intolerant oder ignorant gegenüber ihren Mitmenschen. Überhaupt ist der Glaube an alles oder nichts ein großes Übel. Um etwas gutes zu tun, muss man nicht hundertprozentig dahinter stehen, manchmal reicht es schon, das etwas weniger schlechte zu tun. Zum Beispiel ist das Wählen einer Partei, die ziemlich viel Scheiße verzapft immer noch besser, als das Unterstützen einer Partei, die noch mehr Scheiße verzapft. Auch im persönlichen Bereich: man muss nicht hundertprozentig immer und überall Sportler sein, um seinen Körper gesund zu halten. Genau so wenig muss man hundertprozentig Vegetarier sein, wenn man gegen das Leid von Tieren und Umweltveschmutzung ist. Das berühmte rechte Maß ist tausendmal besser, als jeder Extremismus.

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