Tuesday, November 8, 2005

Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki

Wenedikt "Wenitschka" Jerofejew stirbt am Ende seiner sinnlosen Schnaps-Odysse zwischen Moskau und Petuschki und Moskau durch die Fäuste seiner Leidensgenossen. Die kleinen Leute machen sich gegenseitig fertig. Es gelingt unseren Gesellschaften hervorragend, die größeren Zusammenhänge zu verdunkeln. Nur Bildung führt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und sich bilden ist hart. Das Problem ist also die freie Wahl, die sich gegen den eigenen Willen richten kann. Unmündigkeit wählen ist leicht und verlockend, das zu wählen, was man wirklich will, scheint hingegen schwer zu sein. Ein interessanter Aspekt am Rande ist, dass im Russischen das Wort für Freiheit dasselbe ist wie das für Willen: wolja. Auf deutsch muss man hingegen betonen, dass man den freien Willen meint, wenn man von der Freiheit zu wählen spricht. Im Russischen könnte man also den obenstehenden Satz vom Dilemma der Aufklärung (die eigene Wahl könne sich gegen den eigenen Willen richten) gar nicht bilden und so bleibt dieses Dilemma in Russland unerkannt. Oder im Deutschen bleibt unerkannt, dass unsere Wahl niemals frei ist und deswegen etwas anderes ist als unser Wille. Das ist alles etwas verwirrend und am Ende niederschmetternd.

"Das Mitleid und die Liebe zu dieser Welt sind unteilbar. Die Liebe zu allem Irdischen, zu jeglichem Leib. Und das Mitleid für die Frucht eines jeden Leibes." Wäre das nicht der Satz eines idealen Nietzsche? Nietzsche pc, sozusagen. Aber es ist ein russischer Satz, alkoholisiert und sentimental. Offen für Trauer und Tiefgang, Untergang sogar. Jerofejew erzählt, warum Russen trinken müssen: Um sich in einem Limbo zwischen Verwerfung und Bejahung der Welt zu halten. Jedes Extrem wäre banal. Nur die Trauer angesichts der Liebe und die Liebe zum fremden, das immer das eigene Leid ist, geben der geerdeten Seele Sinn. Natürlich können dumme oder frivole Menschen auch vor Freude jauchzen, ohne sich zu schämen. Der russische Trinker aber füllt sich mit der Scham der anderen und alle Menschen werden Brüder. Ich glaube, dass das spezifisch russisch ist, irisch ist es jedenfalls nicht. Der Ire trinkt, mit einer gewissen Vitalität und ohne Melancholie. Er schlägt sich dann gern, wenn er noch kann. Am liebsten mit seinen Brüdern. Der körperliche Schmerz ist ihm eine Form der Realitätsvergewisserung, die dem Russen abgeht. Der äußere Schmerz hilft dem Russen nicht mehr, er ist nur Erinnerung an die gebotene Kleinmütigkeit. Der Ire muss ein Held sein, der Pub ein Schlachtfeld, die Frau zu seiner Verfügung. Der Russe ist froh, wenn ihn seine Frau zu Hause nicht schlägt. Und weil er nicht sicher sein kann, schläft er lieber in einem fremden Treppenhaus. Moderne Iren müssen sich mit dem Zusatnd der Trunkenheit nicht abfinden, sie koksen sich einfach wieder fit und können dann gleich weitertrinken. Selbst wenn der Russe das Geld hätte, würde er nicht koksen, weil er ja eben so viele Rubel aufgebracht hat, um sich in diesen Zustand auf Knieen zu bringen. Sicher könnte man auch anhand der fröhlichen irischen Kneipenmusik einiges zur Gemütslage der Iren zeigen. Aber ich will nicht übertreiben. Mal ganz abgesehen von der abscheulich chauvinistischen Perspektive der letzten Sätze, kann ich auch sonst nicht viel zur Legitimation des Gesagten vorbringen. Meine empirische Datenlage zu den Iren ist dünn und die Russen kenne ich nur aus Büchern.

Die Zurückweisung des Mitleids bei Nietzsche habe ich nie verstanden. Die Liebe zu allem Irdischen schon. Ich denke mir, dass der arme Mann nur fehlgeleitet war, schwere Kindheit, wahrscheinlich: früher Tod des Vaters, anschließend Matriarchat. Man sieht's ja auch daran, dass er, als sein Rad des Lebens endlich wieder im Stande des Kindes, im Wahnsinn, vorbeigekommen war, ein übersteigertes Mitleid zeigte. Wie alle Halbgebildeten (so nannte mich einmal meine depressive Lieblingslehrerin im Deutsch-Leisungskurs, die ich angeblich immer an ihren Schopenhauer lesenden Schwager erinnert hatte) kenne ich die Anekdote mit dem Pferd, das den weinenden Nietzsche am Hals hatte und nicht verstand. Der wahre Nietzsche war natürlich viel mehr Russe als Grieche oder gar Kelte (jedoch kein Asiate, wie Schopenhauer). Die Konstellationen - nur zur Klarheit - sind folgende: Der Russe liebt alles Irdische und das Mitleid.

Der Grieche liebt alles Irdische, aber nicht das Mitleid. Der Kelte liebt weder das eine noch das andere. (Der Asiate liebt das Nicht-Irdische und das Mitleid, was freilich komplett absurd ist.) Wer kann sich bei solchen Konstellationen schon entscheiden. Wir sind alle Bastarde. Das unsägliche Christentum hat die Sachlage nicht gerade vereinfacht und gerade den Russen schwer zugesetzt. Wer soll heute noch unterscheiden können, ob er jemanden wirklich liebt oder nur Mitleid hat oder nur sich selbst im anderen liebt. Eigentlich ist die romantische Liebe heute ein Ding der Unmöglichkeit geworden, nur noch und wieder spirituell. Die westeuropäischen 68er haben wahrscheinlich in letzter Konvulsion die freie und wirklich romantische Liebe einmal körperlich aufgehen lassen. Seit dem befindet sich die Liebe wieder auf einem regressiven Weg ins Pragmatische (von wo sie schließlich kommt). Über den Umweg der Unmöglichkeit. In diesem Moment ist die noch romantisch verstandene Liebe dem Pragmatismus des Erwerbslebens so im Weg, dass sie abhanden zu kommen scheint. Aber schon sehr bald wird es umgekehrt sein: Wir werden einen Weg finden, die Liebe so zu instrumentalisieren, dass die von uns erwartete Flexibilität zu Gunsten des globalen Kapitals mit ihrer Hilfe stabilisiert wird. Wie alle guten Erfindungen der Menschheit wird auch die Liebe bald von ihrer Körperlichkeit entbunden und frei verfügbar sein. Eine Simulation hört auf, eine Simulation zu sein, wenn sie nur gut genug ist.

Aber das alles ist nur Spekulation. Vorerst müssen wir so tun, als sei nichts passiert. Wir nehmen uns einen Menschen und fangen an, ihn zu lieben. Weil wir wissen, dass wir keine andere Chance haben. Wir müssen schließlich weiter unter diesen entleerten Himmeln laufen, soweit uns die Beine tragen. Stehenbleiben und wehmütig nach oben sehen ist tödlich. Man sieht an den Russen, wohin das führt: Man kommt dauernd zu spät. Zur Strafe sitzt man arbeitslos auf der Brücke nach Europa, wo die Griechen, Kelten und Asiaten hin und her laufen und Groschen fallen lassen. Aber natürlich ist im Verlangen nach Liebe immer noch ein Rest Authentizität. Es ist Teil unseres Menschseins, wie wir es definieren. Wir sind hilfsbedürftige Mängelwesen, die sich qua Gehirn zu so ziemlich allem selbst behelfen können, nur nicht zur Geborgenheit (gerade hier zeigt sich das Gehirn lustigerweise kontraproduktiv). Zur Geborgenheit benötigen wir entweder die Horde der Brüder oder - wenn die zu groß geworden ist - den Seelenpartner, der uns so sehr braucht wie wir ihn. Es ist nichts Falsches daran, etwas zu brauchen und es sich zu nehmen. Die Geldmaschine möchte uns sagen, dass es nur ums Nehmen und Konsumieren ginge. Das selbstzentrierte Individuum braucht Handys, IPods und Weblogs - alles me, me, me. Es ist jedoch eine Binsenweiheit, dass nicht lieben kann, wer nicht produziert (gibt). Konsumenten verlangen, Produzenten lieben. Die Bottomline/Quintessenz ist, dass man sich selbst vergessen können muss, gerade, weil es nur um einen selbst geht. Verlieren, finden, gefunden werden - das ist der Reigen der Liebe. Und nur darum trinken wir Russen, Griechen und Kelten - aus Hingabe.

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