Die Veränderung Europas fasziniert mich nach wie vor, natürlich nicht zuletzt, weil ich im Moment mitten drin stecke, ein Teil dieser gigantischen Völker-Umverteilung. Mit dem bischen Lebenszeit, das ich überblicke, verfalle ich immer wieder in Euphorie, wenn ich meinen Ausgangspunkt bedenke. Bis ich fünfzehn war (und bis dahin hatte es mich gar nicht gestört), wuchs ich in einem politischen System auf, dass seine Einwohner nicht nur in ihrer Bewegungsfreiheit stark beschränkte, sondern auch - und das ist mindestens so schlimm - medial behinderte, wo es nur ging. Heute lebe ich in einem Europa, dass mir beinahe jede Bewegungsfreiheit erlaubt, die ich wünsche und in einer Welt, in der ich mir jedes Buch, jede Musik, jeden Film usw. kaufen kann. Ich lese gerade die Essay-Sammlung "Die Aussicht vom 13. Stock" von Erwin Chargaff. Dieser Zyniker, seit 1935 in den USA lebend und die nordamerikanische Kultur zutiefst verabscheuend, denunziert in seinen Texten laufend die Umbrüche ("Revolutiönchen", 52), die in Europa stattgefunden haben. Das Volk habe aus purem "Konsumerismus", aus "Verbrauchssucht" heraus die Grenzen durchbrochen (und damit außerdem den dritten Weltkrieg angezettelt). Anschließend kokettiert er damit, dass er kein Fernsehgerät besäße. Interessant wäre, zu erfahren, woher der Mann seine Schlauheiten hat. Aus eigener Erfahrung können sie nicht stammen. Für einen US-Universitätsprofessor ist es vielleicht nicht vorstellbar, dass man diese Schrift, jenes Buch oder dieses Gedicht entweder nicht bekommen kann oder bei Strafandrohung nicht lesen darf. Chargaff nennt Zensur und Reisebeschränkung schlicht "Unannehmlichkeiten" (S.59). Wenn man mit dem US-Amerikanischen Pass überall in der Welt frei herumreisen kann, dann fällt einem vielleicht gar nicht mehr auf, dass man einer privilegierten Minderheit angehört. Dann kann man sich schon mal über die ehemaligen DDR-Bürger lustig machen, wie sie über die Grenzen strömten, um sich 100 D-Mark Begrüßungsgeld abzuholen. Darum ging es aber gar nicht. Der Gedanke, dass ich jetzt in der DDR säße, einem langweiligen Broterwerb nachgehen würde, man mir vorschriebe, was ich lesen dürfte und wohing ich reisen könnte, ist mir unerträglich. Die Texte von Chargaff verstehe ich nur als missglückte Verspottungsversuche (Spott ist ja nicht per se schlecht, wenn er sich aber gegen Leute richtet, die mit Ihren Biografien nicht so viel Glück hatten, wie der Spötter, dann finde ich Spott unerträglich). Wenn man jetzt daran interessiert wäre, könnte man auch noch spekulieren, wie und ob überhaupt eine Aufrechterhaltung der DDR unter den Umständen einer elektronischen Moderne und Ihren Medien (WWW, E-Mail usw.) überhaupt noch länger möglich gewesen wäre.
Das alles kann ich sagen und - da legt sich die Euphorie dann schnell wieder - trotzdem die Probleme und Schandtaten im heutigen Europa sehen. Unsere Degradierung vom politischen Bürger zum Konsumenten zum Beispiel oder die Abschirmung der Gesellschaft gegen Armut (statt Armutsbekämpfung). Mit der Unterwerfunng unserer aller Leben unter die kurzfristigen ökonomischen Zwänge einiger wenige werden im Moment ganz furchtbare Entscheidungen getroffen. Wenn der Sozialstaat reformiert wird (statt einen neuen zukunftsfähigen zu entwerfen), dann werden gesellschaftliche Weichen auf lange Sicht gestellt. Denn die, die davon profitieren sind in ihrer geringen Zahl mächtig genug (nebenbei bemerkt, und das finde ich besonders bedenklich, sind sie auch unsere Bildungselite), um das Erreichte nicht wieder herzugeben. Im Moment glaubt man tatsächlich, einem gesellschaftlichen Rückschritt beizuwohnen, den man bei so viel Reichtum gar nicht für möglich, geschweige denn nötig gehalten hätte. Der ausschlaggebende Punkt ist natürlich dass sich dieser Reichtum leider so stark konzentriert und nicht allen zugute kommen kann.
No comments:
Post a Comment